Mehr als drei Jahre muss der Anführer einer Berliner Neonazi-Gruppierung hinter Gitter. Eines seiner Gewaltopfer bricht beim Prozess in Tränen aus. Die Nebenklage spricht von „rechtsextremer Raumnahme“ im Osten der Stadt.
Irgendwann kann er nicht mehr. Es ist der zweite Prozesstag im ehrwürdigen Saal 500 des Berliner Landgerichts, als der erwachsene Mann, der kurz zuvor auf dem Zeugenstuhl Platz nahm, in Tränen ausbricht.
„Es hat meinen Alltag massiv beeinflusst. Ich habe Panikattacken, massive Angst, ich traue mich nicht mehr nach Hause“, sagt der 42-Jährige. Dann unterbricht die Richterin, die Worte des Zeugen sind vor lauter Schluchzen fast nicht mehr zu verstehen.
Derjenige, der für das Leid des sichtlich mitgenommen Zeugen verantwortlich ist, sitzt ein paar Meter gegenüber in einem Glaskasten. Julian M. verbringt sein Leben seit Oktober in U-Haft.
Es werden nicht die letzten Monate hinter Gittern sein. Am Mittwochmittag spricht das Gericht den Rechtsextremisten wegen verschiedener Gewalttaten schuldig.
Drei Jahre und drei Monate Haft für den Anführer des Berliner Ablegers der rechtsextremen Truppe „Deutsche Jugend Voran“.
Das Verfahren vor dem Landgericht ist vor allem eine Premiere. Das erste Mal überhaupt wird dem Milieu der neu gegründeten Neonazi-Jugendgruppen der Prozess gemacht.
Nach der Verurteilung des Julian M. dürften weitere Verfahren folgen. Ob in Berlin, Halle oder Dresden.
Mitglieder von Organisation wie „Jung und Stark“, „Deutsche Jugend Zuerst“ oder „Elblandrevolte“ hinterließen in den vergangenen Monaten eine Spur der Gewalt im Land, die Opfer meist politische Gegner.
So auch im Fall Julian M. Im September 2024 überfiel er mit mehreren Kameraden den 42-Jährigen, der sich nun nicht mehr nach Hause traut. Dieser trug ein T-Shirt der Antifa.
Die Rechtsextremen wurden in einem Supermarkt in Marzahn auf ihn aufmerksam. Dann umzingelten sie ihn, schlugen auf ihn ein und forderten sein Kleidungsstück.
„Ich habe dann mein Shirt ausgezogen, um nicht noch im Krankenhaus zu landen“, sagt der Mann vor Gericht. Sein Leben habe sich seitdem grundlegend verändert.
In der Dunkelheit traue er sich kaum noch nach draußen. „Ich versuche mich dann mit Musik auf meinen Kopfhörern abzulenken“, erklärt er mit zittriger Stimme.
Auch ein weiteres Gewaltopfer des Rechtsextremisten berichtet von heftigen Konsequenzen. Im Oktober überfiel eine größere Gruppe vermummter Neonazis um M. den 29-Jährigen nach einer rechtsextremen Demonstration in Berlin-Marzahn in einem Waggon der S7.
Auch hier war es ein Antifa-Symbol an der Kleidung des Geschädigten, das die Gewalttäter provozierte.
Sie traten und schlugen auf ihn ein, auch als er schon auf dem Boden lag. Die Staatsanwaltschaft spricht in ihrem Plädoyer von „potenzieller Lebensgefahr“.
Das Opfer des Exzesses sagt vor der Kammer, er fühle sich in der Gegend seitdem nicht mehr sicher. Der Anwalt der Nebenklage spricht von einer Art rechtsextremer Raumnahme im Berliner Osten.
Das Ziel der Neonazis um M. sei dabei aufgegangen. Politische Gegner nachhaltig zu schädigen, ihnen Angst zu machen, sie in die Panik zu treiben.
Die Gewalt bereue er, erklärte Julian M. gleich am ersten Prozesstag im März. Mehrmals bat er bei seinen Opfern um Entschuldigung. Dazu gehören zwei weitere Personen aus dem Bekanntenkreis, die der 24-jährige M. ebenfalls bedrohte.
Ob die sechs Monate in der U-Haft etwas an seiner politischen Einstellung geändert haben, will die Richterin von ihm wissen.
M. überlegt lange, kaut dabei Kaugummi. „Nein“, antwortet er dann. Die „Deutsche Jugend Voran“ sei schließlich auch sein „privater Freundeskreis“.
Er stehe weiterhin zu den politischen Zielen der „DJV“, „nur eben nicht mit Gewalt“, sagt M.
Sicherlich
Mehrmals zeigt er aus dem Glaskasten das sogenannte „White Power“-Zeichen in Richtung des Zuschauerraums. Die rassistische Geste steht für die vermeintliche Überlegenheit der weißen Rasse. Unter den Besuchern wird das Symbol feixend aufgenommen.
Junge Neonazis begleiten den Prozess. Es sind „Deutsche Jugend Voran“-Mitglieder aus Berlin, aber auch angereiste Mitstreiter aus Chemnitz und Halle.
Eine junge Frau trägt eine tätowierte „444“ auf dem Hals, der Code steht für die Parole „Deutschland den Deutschen“. Ein anderer die „44“, Chiffre für eine Sondereinheit der SS.
Nach der Urteilsverkündung pilgern sie geschlossen vom Gericht zum großen Tor der Justizvollzugsanstalt Moabit. Bis Haftantritt ist Julian M. erstmal wieder auf freiem Fuß, vor der JVA wollen sie ihn willkommen heißen. Er ist schließlich weiterhin einer von ihnen.